(af) In diesem Jahr feiert die Chaiseraugschter Gugge Grossschtadtchnulleri ihr 50-jähriges Bestehen. Das gibt Gelegenheit für ein Gespräch mit Toni Hollenstein, deren erstem Major.
«Feldschlösschen hin, Ueli-Bier her, soviel Heimatverbundenheit muss sein», sagt der Toggenburger Toni Hollenstein mit dem typischen trockenen Humor, ohne Anflug eines Lächelns, und kredenzt ein Appenzöller «Quöllfrisch». Dann fängt er an zu erzählen: «Im Jahr 1968 verschlug es uns hier runter ins Fricktal. Ein paar Monate später wurde ich Mitglied der Musikgesellschaft Kaiseraugst. Seltsamerweise spielten wir an der Fasnacht jeweils hundsgewöhnliche Marschmusik, was uns in Pratteln, wo wir ebenfalls auftraten, Spott eintrug. Irgendwann beschlossen die Jüngeren in der Musikgesellschaft, eine richtige Gugge zu gründen.»
Der Widerstand, sagt Hollenstein, sei erheblich gewesen: «Man mache die Instrumente kaputt, hiess es. Einer rüsselte, das werde nie und nimmer funktionieren, in zwei Jahren werde der Spuk wieder vorbei sein, man werde seiner Worte gedenken.» Die Prophezeiung erfüllte sich nicht. Dieses Jahr werden die Chnulleri fünfzig. Toni Hollenstein, ihr erster Major, erinnert sich an die Anfänge: «Der Sound war natürlich ein anderer. Heute ist jede Gugge eine Bigband. Damals spielten wir zwischendurch absichtlich schräg und falsch. Die Disharmonien gaben Hühnerhaut. Weil wir kein Sousaphon hatten, bastelten wir eins, aus gewöhnlichen Röhren, ein Jahr später einen Stereobass mit zwei Bechern. Die Töne mussten nicht stimmen, man musste einfach reinhornen, das klappte gut.»
Der derbe Schein trügt. Toni Hollenstein ist alles andere als eine musikalische Dumpfbacke. Er bewegt sich in verschiedenen musikalischen Welten, «Jazz, Blues, Klassik, Schlager, Volkstümliches, nur die Rockmusik ist mir fremd geblieben». Die Rekrutenschule absolvierte er als Trompeter bei der Militärmusik. Er besuchte Dirigentenkurse, dirigierte fünf Jahre lang die Musikgesellschaft Brislach, zwanzig Jahre die Musikgesellschaft Concordia Wegenstetten, deren Ehrendirigent er ist. «Da konnte ich mehr machen als mit der Gugge», sagt er. Nach einer Dekade gab er den Major der Chnulleri ab. Aber Fasnacht macht Toni Hollenstein bis heute.
Auf Montage in Tanger und Kairo
Und bis heute wohnen er und seine Frau Gerda, die ebenfalls aus der Ostschweiz stammt, in Kaiseraugst. Eigentlich hätten es nur drei Jahre sein sollen. Danach war geplant, in die Heimat zurückzukehren. Doch die Hollensteins wurden hier gut aufgenommen, und die Gegend, muss Toni zugeben, «bietet mehr als das mittlere Toggenburg».
Dort war er aufgewachsen, zusammen mit zwei Schwestern und vier Brüdern, mütterlicherseits ist er Italiener, der Nonno war aus der Poebene in die Schweiz eingewandert. Damals wurden Tunnels gebaut für die Bodensee-Toggenburg-Bahn, da gab es Arbeit. Toni Hollensteins Vater war Bäcker-Konditor mit eigenem Geschäft in Lichtensteig. Toni absolvierte bei Bühler AG in Uzwil eine Lehre als Mühlenbauer, das sei die spannendste Lehre von allen gewesen, kommt er noch heute ins Schwärmen, «da war alles drin, Maschinenbau, Schlossern, Spenglern, Schreinern, Zeichnen usw.»
Nach dem Lehrabschluss konnte er im Auftrag von Bühler auf Montage in die weite Welt reisen, der Sommer in Tanger in Marokko ist ihm als der schönste seines Lebens in Erinnerung, nur dreimal regnete es, und es war nie extrem heiss. Anders der Aufenthalt in Kairo in Ägypten, da zeigte das Thermometer zuweilen mehr als 40 Grad an. Doch Toni Hollenstein, mit italienischem Blut in den Adern und neben einem Backofen aufgewachsen, hatte damit keine Probleme, jedenfalls weniger als in der RS in jenem Winter der grossen Seegfrörni, als man bei minus 20 Grad auf dem Kasernenplatz exerzieren musste.
Fünf Jahre ging Toni Hollenstein insgesamt auf Montage, dann beendete er dieses Kapitel in seinem Leben. Zwar liebte er es, in der Welt herumzukommen, doch fehlten ihm die Musik, die Freunde, die Berge. Seit seiner Kindheit ist Hollenstein begeisterter Bergsteiger, Hochtouren haben ihn auf viele Viertausender geführt, und selbstverständlich zieht es ihn immer wieder in die alte Heimat, auf die Kurfirsten, ins Säntismassiv. Sein Vorsatz, nach der Pensionierung jährlich einmal – «als alter Mann», wie er sagt – den Altmann zu besteigen, hält er seit nunmehr dreizehn Jahren konsequent ein.
Ein Haus bauen
Bis zur Pensionierung war Toni Hollenstein über drei Jahrzehnte im Grossapparatebau tätig, als Betriebs- und Fabrikationsleiter bei Apaco, einem Familienunternehmen mit Sitz in Grellingen. Er blickt zurück auf eine glückliche berufliche Laufbahn, mit der anfangs kleinen Firma ging es kontinuierlich aufwärts, er verstand sich ausgezeichnet mit dem Patron, nach Besichtigung von neuen Schweiss- und Brennanlagen rechneten sie auf dem Heimweg jeweils auf einem Fresszettel oder Bierdeckel durch, ob sich ein Kauf lohnen würde.
Dasselbe machten sie auch, als sich Toni Hollenstein seinen Traum erfüllte, ein eigenes Haus zu bauen. «Willst du immer noch ein Haus bauen?‘», fragte eine Frau, die er aus gemeinsamen Guggen-Zeiten kannte. Sie hatte ein grosses Gelände an der Friedhofstrasse geerbt. Die Fresszettelrechnung ging auf, man kaufte den Bauplatz, fand eine tolle Architektin, «sie ging auf unsere Wünsche ein, hatte gute Ideen und war tough gegenüber den Handwerkern.»
1999 war das Haus bezugsbereit. Zuvor hatten die Hollensteins drei Jahrzehnte im Spiegelgrund gelebt, der ersten Überbauung ennet der Bahngleise, die beiden Söhne waren dort in einer Schar von mehreren Dutzend Kindern aufgewachsen. Inzwischen waren sie ausgezogen. Das Haus an der Ecke Friedhofstrasse/Mattenweg ist das emotionale Zentrum der Familie, die inzwischen um eine Generation gewachsen ist. Es ist auch ein emotionales Zentrum des Dorfes.
Vor dem Haus steht eine Skulptur, aus massivem Stahl, doch mit sanftem Schwung und fliessenden Linien gestaltet. Wer durchs Dorf spaziert, begegnet mancherorts ähnlichen Konstrukten. Seit seiner Pensionierung hat Toni Hollenstein endlich Zeit für jenen Lebensbereich, der ihm weit mehr ist als ein Hobby und ihn seit jungen Jahren begleitet: die bildende Kunst. «Neben präziser Arbeit mit Metall», sagt er, «faszinierte mich immer auch das freie Formen.» Familie, Beruf, Musik – all dies erfüllte sein Leben und hinderte ihn daran, der Faszination zu folgen. Doch nach der Pensionierung trat die bildende Kunst «schlagartig» auf den Plan.
Kein Gschnuurpf
Seither habe er «immer etwas im Kopf», sagt Toni Hollenstein, «wenn ich etwas davon verwirkliche, entsteht im Kopf wieder Platz für Neues.» Hollenstein gestaltet mit grosser Geste. Sein ehemaliger Arbeitgeber ermöglicht ihm, in den Fabrikhallen Skulpturen von zum Teil exorbitantem Ausmass zu schaffen, geschweisst, geschnitten, geschliffen. Dreidimensional. Zugleich ist seine Kunst fern von jeglichem «Gschnuurpf», wie der Toggenburger künstlerischen Schnickschnack nennt. Er mag keinen Rost, keine Risse noch Brüche.
Sein Vorbild ist der 1933 geborene Therwiler Künstler Jakob Engler. Dieser verschliesse sich «jeder Form des Spektakulären», sagt Hollenstein. Die «Kreuz-Licht-Kapelle», eine von Engler 2007 zum hundertjährigen Jubiläum der Pfarrei St. Franz Xaver in Münchenstein geschaffene Plastik, symbolisiere Offenheit und überkonfessionell-weltweite Verbundenheit. Sie sei, sagt der Katholik Toni Hollenstein augenzwinkernd, auch für Reformierte ein sich lohnendes Pilgerziel. «Aber nicht mehr heute Abend», fügt er hinzu, leert sein «Quöllfrisch», hilft mir in den Mantel. Dann folgt der Cherus, der lange nachhallt. Toni Hollensteins Leben umfängt Jazz und Folklore, Gugge und Harmonie, Lichtensteig und Kaiseraugst, die Fasnacht und auch den Aschermittwoch. Er führt mich rüber zum Friedhof. Dort, nur ein Steinwurf von seinem Haus entfernt, steht die Skulptur, die Toni Hollenstein kürzlich für Sternenkinder gestaltet hat. Sie sei, sagt er, eine Kombination von verschiedenen Elementen und Aspekten. Er möge nicht viel dazu sagen. Immerhin dies sagt er dann doch noch: «Oben, dem Himmel zugewandt, siehst du den grossen Stern, das Sternenkind. Ein Arm umfängt tröstend den gebeugten Leib der Mutter. Auf die Skulptur können kleine Sterne mit eingravierten Namen geschraubt werden.»