Es ist das erste Mal, dass man Aline Schnepp hier im Kirchgemeindehaus ohne Cello sieht. Sonst spielt sie in Gottesdiensten und gibt Konzerte. Diesmal trifft man sich zum Gespräch, wenige Tage nachdem sie ihren Master of Performance mit Auszeichnung absolviert hat. Sie wirkt, wen wundert’s, tiefenentspannt.
ANDREAS FISCHER*
Zur Welt kam Aline Schnepp in Liestal, bald darauf zog die Familie nach Rheinfelden, wo Aline ihre Jugend verbrachte. Heute lebt sie, zusammen mit ihrem Partner – ebenfalls Cellist – in Basel. Die Wohnung in der Altstadt erfüllt die für Musiker relevanten Bedingungen: Sie liegt zentral, der Weg zum Bahnhof ist nicht weit, und man darf Tag und Nacht üben, ohne die Nachbarn zu nerven.
Alines Mutter ist Geigerin, ihr Vater Kontrabassist am Basler Symphonieorchester, sie selber hat sich als Vierjährige fürs Cello entschieden, also jenes Instrument, das von der Grösse her dazwischen liegt. Sie habe, sagt sie, damit «ins Schwarze getroffen». Noch heute sei das Cello für sie das schönste aller Instrumente. Und es passe zu ihr, «ein Melodieinstrument mit warmem Klang, mit tiefen Bässen. Obwohl man nur eine bis maximal vier Noten gleichzeitig spielen kann, ist die Cellomusik sehr wandelbar.»
Rustikal, bassig, viel Klangraum
Seit zwei Jahren hat Aline ihr eigenes Instrument, es sei, sagt die filigran wirkende junge Frau, «rustikal, grob gebaut, sehr bassig, mit viel Klangraum». Man komme damit «an andere Orte». Das Instrument, Anfang dieses Jahrhunderts in Italien gebaut, sei wirklich ihres.
Nicht nur die Klänge, auch das Wesen von Aline Schnepp geht in die Tiefe. Ein verbindendes Merkmal der Musik, die sie bei ihrem Masterrezital spielte, ist, dass sie aus Schaffenskrisen heraus entstanden ist. Bei Ludwig van Beethoven (1770-1827) war es seine einzige – aus ihr trat er hinein in seine Spätphase, in der er scheinbar unverrückbare kompositorische Konventionen aufbrach. Am Anfang dieser Spätphase steht die Sonate C-Dur für Klavier und Violoncello. «Zusammengefasster, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen», sagte der grosse Goethe von seinem Zeitgenossen, nachdem er ihn damals getroffen hatte.
Goethe hat vermutlich auch die «Fünf Stücke im Volkston» von Robert Schumann (1810-1856) inspiriert. «Vanitas vanitatum» hat dieser über das erste Stück geschrieben, also: «Alles ist vergänglich». Im gleichnamigen Gedicht von Goethe heisst es: «Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt, Juchhe! / Drum ist’s so wohl mir in der Welt. Juchhe!» Das Stück ist, geradezu subversiv, als in einem 2/4-Takt versteckter Dreier komponiert. Entstanden ist es mitten im Dresdner Maiaufstand, der, letztlich erfolglos, demokratische und liberale Werte durchzusetzen versuchte.
Insel im Meer des Alltäglichen
Die «Weite des Terrains» in den Stücken im Volkston des als unpolitisch geltenden Schumann zu erkennen, sei nichts für «gedankenlose Spieler», zitiert Aline Schnepp einen Kommentator der damaligen «Neuen Zeitung». Sie selber macht sich viele Gedanken über Musik und ihr eigenes Verständnis davon. «Musik», sagt sie, «soll eine Insel im Meer des Alltäglichen sein, kein politisches Programm, aber auch nicht blosse Unterhaltung. Musik lässt erahnen, dass das Dasein des Menschen aus mehr als nur Arbeit besteht. Musik nährt Seele und Geist.» Und sie sei, fügt Aline Schnepp hinzu, somit durchaus systemrelevant, auch wenn ihr das in der Corona-Zeit leider oft abgesprochen worden sei.
Zum Programm des Masterrezitals gehörte auch ein Werk des russischen Komponisten Sergei Rachmaninow (1873-1943). Dass sie Rachmaninow spiele, sei für sie selbstverständlich, sagt sie. «Der kann ja nichts für Putins Wahnsinn.» Auch dass sie im Rezital ausschliesslich Männermusik spielte, sieht Aline Schnepp übrigens gelassen. Es gebe davon in der Literatur der letzten Jahrhunderte einfach mehr, in der zeitgenössischen Musikliteratur ändere sich das glücklicherweise.
Die Sonate g-Moll für Violoncello und Klavier von Rachmaninow ist das mit Abstand längste Werk, das Aline Schnepp bei ihrem Masterrezital zur Aufführung brachte. Mit seinen weitflächigen Tonlandschaften steht es in hartem Kontrast zu den konzentrierten Oevres von Beethoven und Schumann.
Kontraste sind insgesamt das, was Aline Schnepps Masterrezital ausmachte. Sie zitiert dazu Rachmaninow selbst: «Ob es Liebe, Bitterkeit, Trauer oder religiöses Empfinden ist: all diese Stimmungen gehen in meine Musik ein.» In allem drin gilt, sagt sie, noch einmal Rachmaninow zitierend: «Die Musik muss aus dem Herzen kommen und zu Herzen gehen.»
«Es wird nie langweilig»
Indessen gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Komponisten und Interpreten. Ihre Aufgabe als Interpretin, sagt Aline Schnepp, sei ähnlich wie jene einer Schauspielerin: «Du muss nicht unbedingt traurig sein, um traurige Sachen zu spielen». Doch dieses Sich-in-eine-Welt-Hineinversetzen, das mache das Musikerleben interessant. «Es wird nie langweilig.»
Das gute Gelingen des Masterrezitals habe sie, betont Aline Schnepp, in hohem Mass der Pianistin Tamara Chitadze zu verdanken. Sie begleitete sie bei allen Stücken – ausser jenem in der Mitte. Dieses, in dem sich die tiefsten Abgründe des Rezitals auftun, ist für Cello Solo komponiert. Hier, in der Mitte, kommt alles zusammen, was Aline Schnepp wichtig ist: die Wandelbarkeit des Instruments, die sich in der Bandbreite von Spieltechniken ebenso zeigt wie in den verschiedensten Gefühlslagen, in die es die Zuhörenden versetzt. Die Tempi, die der moderne Komponist Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) mit «von langsam bis so schnell wie möglich» festlegte und damit die alltägliche Vorstellung von Zeit als etwas Linear-Messbarem sprengt. «Wutausbruch in Fortissimo», «grooviger Swing», «grosse Ruhe und zerbrechliche Innigkeit», die wie ein «sphärischer Gesang ins Jenseits hinein» wirke – mit solchen Worten charakterisiert Aline Schnepp sprachlich dicht die verschiedenen Stimmungen in «Vier kurze Studien für Violoncello solo» des wenig bekannten, in Insiderkreisen aber hochdotierten deutschen Musikers.
Zurück ins normale Leben
Zimmermann nahm sich, von Depressionen gezeichnet, kurz nach Abschluss dieser Komposition das Leben. «Aber muss man sich keine Sorgen machen?», fragt der Schreibende. Er ist Pfarrer in jener Kirchgemeinde, in der Aline gross wurde, konfirmiert wurde, Konzerte gibt und Gottesdienste musikalisch mitgestaltet, am liebsten an Weihnachten, dem familiären Fest des Friedens und der Liebe. «Nein», sagt Aline lachend. Sie habe, eben, diese Distanz des Schauspielers zum Werk. Und es gebe für sie ein Leben ausserhalb der Musik. Dazu gehören zum Beispiel die Schwester, die Pharmazie studiert, sowie Psychologinnen und Primarlehrer im Freundeskreis, «die mit Musik nichts zu tun haben, die mich ins normale Leben zurückholen». Und schliesslich sind da die Ferien an Kretas nicht touristischer Südküste. «Als Musikerin», sagt Aline Schnepp, «habe ich keine festen Freitage. Oft bist du an den Wochenenden engagiert. Umso wichtiger ist es, zwischendurch den Kopf zu verlüften.»
* Andreas Fischer ist reformierter Pfarrer in der Kirchgemeinde Region Rheinfelden.